GESCHICHTE EINES SONNENBLUMENKERNS
- Vom Dunkel ins Licht -
In einem Lagerschuppen nahe eines Gartens lebte einmal ein zufriedener Sonnenblumenkern. Vielleicht wäre
er dort alt geworden, wenn ihn nicht eines Tages der Gärtner ergriffen hätte, um ihn einzupflanzen.
„Es ist an der Zeit“, sagte er zu ihm. „Heute ist die Stunde gekommen, Dein Leben kennenzulernen – das eigentliche, erfüllte Leben.“
„Deine Worte ängstigen mich.“ entgegnete der Sonnenblumenkern mit zitternder Stimme. „Das Leben kennenzulernen scheint mir nicht so verheißungsvoll zu sein, wie Du es sagst. Es ist ungewiss, was aus mir werden wird. Stimmt es denn, dass man in die tiefe, dunkle Erde muss und ganz schmutzig wird ? In dem Lagerschuppen, in dem ich bisher lebe, ist alles ganz sauber. Ich war bei meinen Freunden und fühlte mich geborgen.“
„Du wirst Dein Leben in dieser sauberen, wohlbehüteten Umgebung nicht finden. Dein Leben will entdeckt und gelebt werden. Du wirst Dich auf die Suche machen müssen, sonst bleibt alles in Dir gefangen. Dein Leben würde nie in Dir aufbrechen und keimen, wenn Du so bleiben willst, wie Du jetzt bist. Du wirst es nur finden, wenn Du die Mühe des Wachstums auf Dich nimmst. Hab Vertrauen; das Leben ist größer und schöner als unsere Angst.“
„Aber wenn Du mich eingräbst, dann sterbe ich in der dunklen Einsamkeit der Erde.“
„Was heißt schon sterben ? - Du siehst es nur von einer Seite. Aus dem Dunkel der Erde wird Dein neues Leben wachsen. Du stirbst nicht, sondern wirst verwandelt. Du kannst nicht bleiben, was Du jetzt bist. Werde das, was Du wirklich bist !“
„Das klingt fremd für mich, Gärtner.“
„Leben bedeutet nicht zuerst sein, sondern werden, wachsen und reifen. In Dir steckt noch viel mehr, als Du jetzt zu sehen vermagst. Du bist ein Kern voller blühender Zukunft, voll unendlicher Lebensmöglichkeiten, die
tief verborgen in Dir schlafen und nur darauf warten, geweckt zu werden.“
„Aber ist das Licht der Sonne denn nicht genug, um meine Lebenskraft zu wecken ? Warum muss ich in das Dunkel der Erde gelegt werden ?“
„So einfach, wie Du denkst, ist das mit dem Leben nicht. Manches, was Dir heute weh tut und als Unglück erscheint, kann morgen einmal Dein Glück bedeuten. Es ist nicht gerade bequem, die Erfüllung seines
Lebens zu finden. Dein Leben ist eine Aufgabe : Du musst Dich selbst loslassen und etwas wagen, wenn Dein Leben sich in seinem ganzen Reichtum entfalten soll.“
Nachdem er dies gesagt hatte, grub der Gärtner ein Loch und legte den Sonnenblumenkern in die Erde.
Die lange, beschwerliche Zeit des Wachstums begann.
„Jetzt ist es bald zu Ende mit mir. Es hätte so schön sein können, aber nun vergeht mein Leben in der Erde“, dachte der Sonnenblumenkern bei sich.
Doch dann bemerkte er allmählich, wie sich tief in seinem Innern etwas regte und bewegte, von dem er nicht sagen konnte, was es war. Dieses Gefühl versetzte ihn tagelang in Unruhe. Nach traurig düsteren Tagen
durchfuhr ihn ein Schmerz. Dies eröffnete ihm einen neuen Lebensraum. Der Panzer seines bisherigen Lebens war durchbrochen. Der Trieb hatte den Kern und den Erdboden durchdrungen.
„Das meinte also der Gärtner mit Wachstum und Entfaltung ! Wachstum betrifft mein ganzes Wesen. Wachstum bedeutet, die Schale zu durchbrechen, damit sich der Kern, das eigentliche Wesen, entfalten
kann. Wachstum meint also, wesentlich zu werden.“
Sanft streichelten die Sonnenstrahlen den hellgrünen Trieb, der unter den Zärtlichkeiten der Sonne wuchs. Einfühlsam lockten ihn die warmen Strahlen zum Leben. Mit der Zeit bildeten sich immer neue Blätter.
„Noch lebst Du nur für Dich selbst und verwendest Deine ganze Kraft auf die Entfaltung Deines Wesens. Aber bald wirst Du ganz offen sein für das Lächeln der Sonne, für die Vögel, für den Wind und den Regen. Dann kannst Du Deine Kerne weitergeben, damit neues, vielfältiges Leben wachsen kann. Dann wirst Du blühen, kleine Blume und es wird keine einzige Blume im großen Garten geben, die so ist wie Du“, sagte
der Gärtner.
„Ja, es bereitet sich schon vor. Meine Blütenblätter fühlen sich noch zart und verletzlich an. – Wann ist der Tag gekommen, an dem ich meine Kerne weitergeben muss ?“
„Du wirst so weit in den Himmel hineinwachsen, wie Du in denTiefen der Erde verwurzelt bist. Dann ist Deine Stunde gekommen. Du wirst es spüren.“
Ihre Blätter begannen sich schon auszuspannen und auszudehnen. Sie musste mit aller Kraft drängen und kämpfen, um zur vollen Entfaltung zu gelangen. Das war nicht leicht, es erforderte ebenso viel Mut wie Ausdauer. Jeder neue Kern, der entstand, schmerzte ein wenig. Langsam und vorsichtig tastend
streckte sie ihre gelben Blütenblätter bis in die letzten Fasern. Ein unbekanntes Glücksgefühl durchzitterte sie, und sie empfand sich zum ersten Mal ganz frei. Sie fühlte sich so leicht wie das Licht und zugleich so schwer wie die Erde. Sie spürte, dass Himmel und Erde als eine große Wirklichkeit zusammengehörten.
Und die Sonnenblume dachte an die Worte des Gärtners :
„Was in uns verborgen liegt, soll entfaltet werden,
damit das Leben glückt.“